Hans Günther Bastian
Musik(erziehung) und ihre Wirkung.
Eine Langzeitstude an Berliner Grundschulen
unter Mitarbeit von A. Kormann, R. Hafen und M. Koch
Verlag Schott Musik International , Mainz 2000, 128,00 DM

Als Taschenbuch
Kinder optimal fördern - mit Musik.
Mainz 2001 , 108 Seiten, 12.90 DM

Erklärung Alte Oper FFM am 11.3.2001 von H. G. Bastian

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Musik,

von Hellas bis heute, von Adorno bis Zacher werden immer wieder "Wirkkräfte" von Musik und Musizieren für die Erziehung des Menschen in zahllosen Aphorismen beschworen - von Philosophen, (Musik-)Pädagogen, Künstlern und Politikern.

Keine Frage: Ob im Idealismus, Pessimismus oder Nihilismus philosophischen Denkens, der Musik und ihrer Wirkung kam stets euphorisch und uni sono eine erziehungsförderliche, menschenveredelnde und daseinserleichternde Sonderstellung zu.

Diese verbreitete Lebensweisheit vom "Nutzen der Musik", von Musik als "Mittel der Erziehung", war bisher mit wenigen Ausnahmen ohne wissenschaftliches Fundament geblieben.
Daher führten wir von 1992 bis 1998 an sieben Berliner Grundschulen (5 Modellklassen und 2 Kontrollklassen) die sechsjährige Langzeitstudie "Zum Einfluß von erweiterter Musikerziehung auf die allgemeine und individuelle Entwicklung von Kindern" durch , die dankenswerter Weise vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Ich freue mich, dass Herr Rainer Mohaupt hier als Vertreter des Ministeriums anwesend ist.

Die Ergebnisse liegen in einer ca. 700 Seite umfassenden Studie vor (Datenanhang auf CD-ROM). Wichtig war es, die Ergebnisse in einem Taschenbuch zusammenzufassen, um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gestatten Sie mir wenige Ergebnisse im Stenogramm

1.
Soziale Kompetenz und soziale Reflexionsfähigkeit werden nachhaltig durch Musikerziehung verbessert. In musikbetonten Grundschulen ist die Zahl von weniger oft völlig ausgegrenzten Schülern nachweislich geringer. Umgekehrt ist der Anteil der Kinder, die keine einzige Ablehnung von ihren Klassenkameraden erhalten ("Den Schüler mag ich nicht"), sensationell hoch, im allgemeinen doppelt so hoch wie an den konventionellen Schulen. Kinder mit Musikerziehung verfügen über Vorteile in ihrer sozialen Urteilsfähigkeit, sie sind besser in der Lage, aus Erfahrungen zu lernen und Situationen des Alltags adäquat zu erfassen und zu beurteilen.

2.
Für 6 jährige Kinder können wir nachweisen, dass der IQ-Wert mit zunehmender Musikalität steigt. Mehrjährige "erweiterte" Musikerziehung führt nachweisbar bei Kindern aus musikbetonten Grundschulen zu einem signifikanten IQ-Zugewinn. Sozial benachteiligte und in ihrer kognitiven Entwicklung wenig geförderte Kinder profitieren dabei von einer "erweiterten" Musikerziehung. Also ist Bildungspolitik mit Musik zugleich die beste Sozialpolitik.

3.
Verstärkte Musikerziehung hilft vor allem Schülern mit hohen Konzentrationsdefiziten, d.h. in Musikklassen gibt es weniger konzentrationschwache Schüler. Darüber sollten sich Lehrer aller Fächer freuen.

4.
Musikbetonte Erziehung bedeutet zusätzliche Zeitinvestition. Doch der vermehrte Zeitaufwand geht ganz eindeutig nicht zu Lasten der allgemeinen schulischen Leistungen. Zu keinem Zeitpunkt der Studie waren die Leistungen der Kinder aus der musikbetonten Grundschule in den sogenannten "Hauptfächern" schlechter als in der konventionellen Grundschule. Der prozentuale Anteil der Kinder mit überdurchschnittlich guten Leistungen ist in der musikbetonten Grundschule sogar oft höher. Dies gilt für die Fächer Mathematik, Geometrie, Deutsch, Englisch.

Daraus folgt:
"Unsere Ergebnisse und Erkenntnisse verlangen eine Kultur-, Bildungs- und Schulpolitik, die in unseren allgemein bildenden Schulen das Fach Musik vom Rand in die Mitte rückt". In allen Bundesländern sollten unsere Grundschüler die Chance erhalten, neben einem mindestens zweistündigen Musikunterricht in der Schule ein Instrument zu erlernen und in einem Ensemble zu musizieren.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Musik und Musizieren fordern und fördern die sog. soft skills, die die Arbeits- und Wirtschaftswelt so vehement als Persönlichkeitsqualifikationen verlangt: Kreativität im improvisatorischen Spiel mit Tönen und Klängen, Konzentration in der Genauigekit des musikalischen Spiels, Teamfähigkeit im Ensemblespiel, Extraversion im ausdrucksstarken Musizieren, emotionale Stabilität im Podiumsstress, Intelligenz in der kongenialen Interpretation eines musikalischen Werkes, allesamt Merkmale, die in einem einzigen Lern- und Erfahrungsprozess beansprucht sind. Keine zweite Kulturmanifestation kann hier mithalten und eine Ich-auch-Mentalität beanspruchen.

Lassen Sie mich mit 4 kurzen Gedanken schließen:

1.
Wir brauchen die Musik, weil die Wirkpotentiale der Musik als ratio, emotio und motio sich als Humankapital erweisen, unverzichtbar zur ganzheitlichen Persönlichkeitxentfaltung, zur Menschwerdung, zum Menschsein, zur Menschlichkeit.

Kronzeuge Hector Berlioz:
Die Musik allein wirkt gleichzeitig auf die Phantasie, auf das Gemüt, auf das Herz und die Sinne.

2.
Wir brauchen Musik in den allgemeinbildenden Schulen, insbesondere in den Grundschulen, weil wir Kinder zur Freude an der Musik begaben wollen als eine Freude am Schönen, am Kreativsein, als Freude am Singen und Musizieren, am Improvisieren und Inszenieren, letztlich als Freude am Leben mit mehr Lebensqualität. Setzen wir gegen das verbreitere CONSUMO, ERGO SUM ein canto oder ein creo, ergo sum, oder als Zielmetapher formuliert: Jedes Kind kann sein eigener walkman sein.

Unsere Kinder von heute gestalten die Zukunft unserer Gesellschaft von morgen und das sollten kreative Menschen sein - ohne Musik kaum vorstellbar.

Kronzeuge Altbundespräsident Roman Herzog:
Wenn wir einschlafen lassen, was da ( im Musikunterricht in den allgemein bildenden Schulen) an Potenzialen vorhanden ist, dann sägen wir an dem Kreativitäts-Ast, auf dem wir alle sitzen.

Mit abgewandelten Nietzsche gesprochen:
Ohne Musikerziehung ist die Schule ein Irrtum.

3.
Wir brauchen Schulen mit Musik, Musikschulen, weil Musik und Musizieren zur Befriedung einer zunehmend verhärteten Gesellschaft beitragen kann. Setzen wir also gegen die physische Gewalt in unserer Gesellschaft die psychische Macht der Musik. Denn, so der Schweizer Theologe Leonhard Ragaz: Der Geist der Gewalt ist so stark geworden, weil die Gewalt des Geistes so schwach geworden ist.

Kronzeuge Bundesinnenminister Otto Schily:
Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicherheit.

4.
Wir brauchen Musik als kommunikative Kraft, die über der Sprache steht. Musik ist in allen Kulturen eine Weltsprache, die nicht übersetzt zu werden braucht.

Kronzeuge Victor Hugo:
Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann, worüber zu schweigen aber unmöglich ist.